Musikalische Herangehensweisen


Es ist reichlich schwierig, in einem Dokument zusammenzufassen, was meine Art ist, Musik für die Bühne zu produzieren.

Instrumente:

Klarinetten, Klavier, Percussion

Linnstrument, Pulsar 23, Push, Polyend Play, 1010 Blackbox

Ableton und Max/MSP und Puredata

Viele andere für punktuellen Einsatz

Zunächst einmal: Ich betrachte mich als einen konsequenten Formalisten, was für mich auch heißt, dass Stil niemals ein Ausgangspunkt für die Lösung von künstlerischen Fragen sein sollte. Ergo: Ich arbeite nicht in einem bestimmten Stil. Nicht mit einem bestimmten Instrument. So gut es geht ohne Rücksichtnahme auf meinen privaten klanglichen Geschmack.

Stattdessen versuche ich, ausgehend von den Vorgaben des jeweiligen Projekts bei Null anzufangen. Das führt dazu, dass ich im Bühnenbereich häufig Instrumente oder Tools entwickeln musste, im Hörspielbereich häufig sehr konkret gearbeitet habe (sowohl was die Position des Foley und des Sounddesigns angeht als auch z.B. den Rückgriff auf sehr direkt referentielle Sounds) aber solo auch einfach mit Chansons und zeitgenössischer Elektronik arbeite. Konkret: auch wenn mein ursprünglicher musikalischer Hintergrund der Klezmer ist, habe ich noch nie auf diesen Stil zurückgegriffen (mit der ausnahme bestimmter Spieltechniken auf den Klarinetten). Auch wenn der persönliche Geschmack aller die Musik herstellen meist nach Komplexität schreit, versuche ich Komplexität in den Dienst entweder der Schönheit oder der Inhaltlichen Präzision zu stellen.

Ich versuche ein paar Beispiele zu geben.

Gullivers Reisen

Waignedeh / Morgen

Je sors de nulle part mais d’un trou obscur

Hard Drive

Kopfkino – Stadtspaziergänge

Wolpertinger

Gullivers Reisen

Nach dem Roman von Jonathan Swift

Regie: Wolfgang Nägele

Der Zugriff der Regie auf den Roman war es, die vier Reisen des Gulliver jeweils in einem anderen pseudo-historischen Kontext anzusiedeln: Barock, Steampunk, Retrofuturismus und Futurismus. Die Rollen waren auf vier Darsteller*innen verteilt, die einander fließend ablösten. Das Stück richtete sich dezidiert nicht nur an ein junges Publikum, sondern wollte den ursprünglichen Gesellschaftskritischen Kern von Swifts Satire freilegen.

Der Rahmen der Produktion am Landestheater Thübingen war, dass ich vier Wochen berechnete Arbeitszeit hatte um fertige Tracks von allen Stücken zu liefern. Da relativ viel Text auch vom Band kam, waren es zuletzt insgesamt 83 Tracks, von denen die meisten aber gestaltete Sprache war. Ein Studio oder der Einsatz von Musikerinnen außer mir waren nicht finanziell möglich.

Entsprechend habe ich Musik zu diesem Stück um zwei Hauptstränge herum konstruiert: einerseits das vierstimmige, gemeinsame Erzählen einer unglaublichen (und unglaubwürdigen?) Geschichte durch das Ensemble und andererseits die Zeitreise durch vier Epochen. Ein vierstimmiger Kanon zieht sich motivisch durch vier musikalische Landschaften, die nicht das sind, was sie im ersten Moment vorgeben. Aber von Anfang an ist spürbar, dass die Oberfläche nicht trägt, die Musik manipuliert (ist), die vermeintlich fernen Länder Projektionen von hier und heute sind. Das zumindest war mein Ziel.

Problematisch bei der Darstellung hier ist, dass die Musik jeweils genau auf die Choreographie und den Text hin gesetzt war. Die Qualität besteht darin, wie sie sich zur Szene und den Worten verhält. Ich versuche das durch Beschreibung zu überbrücken.

Akt 1

Die erste Begegnung mit der „Barock“welt findet in einem stummen Vorspiel statt, bei dem in drei Loops der fürstliche Hof von Lilliput eine Stadt aus Papierhäusern aufbauen und einander unterschwellig beharken (Bühne: Valentina Pinor, Fotos auf der Website des Theaters. Ich habe keine Rechte, sie hier zu zeigen.) Flöte und Yangqin führen hier auch den Kanon ein, der sich unangenehm der höfischen Gesellschaft aufdrängt. Später ergänzt auf alle vier Stimmen durch eine Marimba und eine Kora.

Die Widerkehr der Rituale wird durch das Eintreffen Gullivers bald unterbrochen. In den Störgeräuschen, die das Ende jedes Loops markieren, finden sich Vorahnungen der späteren Welten. Das Ende des Tracks erhält Sicherheitsmaterial für eine Kreuzblende, falls bei einer Vorstellung etwas schief gehen sollte.

Auch der eigentliche Stückbeginn ist musikalisch untermalt. Die vier Darsteller*innen finden mühsam zur Sprache, müssen sich erst einig werden, wer nun für Gulliver spricht. Die Situation in der er zu sprechen beginnt ist die berühmte Szene, in der er am Strand gefesselt nach einem nur erwähnten Schiffbruch (0:36) erwacht. Die Herausforderung war hier, den Übergang von einer performativen Meta-Erzählung zu einer filmisch begleitenden Darstellung so zu gestalten, dass sie die Musik nie in den Vordergrund spielt. Ab ca. 5:30 wird abgeblendet.

Akt 2

Der 2. Akt beginnt mit Gulliver, der gewungen ist, für ein Publikum von Riesen über Monate hinweg die gleichen schaustellerischen Tricks vorzuführen. Auch hier gab es einen dreifachen Loop zu beginn des Akts. Die Loops waren begleitet, vom gleichen Marsch, der Stück für Stück weiter kaputt geht. Hier die zur Hälfte zerstörte Version.

Akt 3

Das stumme Vorspiel des 3. Akts zeigt eine merkwürdige Labor/Büro-Welt. Aus der fliegenden Stadt des Romans wird ein Retro-Raumschiff. Die religiös fundierte Wissenschafts-Satire des Romans aber ließ sich so nicht mehr 1:1 übersetzen. So setzte Wolfgang Nägele bei seiner Regie auf die noch direkt abrufbaren Autoritätsdiskurse um Zugänge zu Wissen (z.B. heutige Wissenschaftsskepsis, Machine Learning etc.) und ließ eine völlig abgehobene Raumschiffcrew sich mit einer Künstlichen Intelligenz ringen, die in einem Kopierer saß. Insgesamt sollte die Künstliche Intelligenz hier die Welt vor dem Untergang bewahren (wie im Roman z.B. die Wissenschaft hilflos einen weltzerstörenden Asteroiden und das Ausglühen der Sonne vorhersagt).

Die KI allerdings sieht nur eine Möglichkleit die Welt zu retten, wenn sie zuvor die Menschheit abschafft und tut es. Dafür sollte ich einen Song schreiben. Ich entschied mich für eine Art Tango, der ausschießlich mit den Geräuschen eines Kopierers instumentiert ist. Gesungen hat dieses Stück Meike Hartmann, die Stimme der KI. Text von mir.

Akt 4

Akt 4 spielte in der Welt nach der Zerstörung hier gab es keinen Raum für Musik, aber viel Sounddesign. Die Darsteller*innen schwebten in Raumanzügen über die Mondlandschaft. Die Stimmen kamen vom Band. Maximal uninteressant ohne die szenischen Vorgänge dazu, aber hier ein Eindruck:

Das waren ein paar Schlaglichter auf Gulliver (2023).


Waignedeh / Morgen

Diese Tanzproduktion von Taigué Ahmed beschäftigt sich mit dem Leben in Städten im Tschad, die nur von geflüchteten Menschen bewohnt werden. Alltag und Routine sind ebenso Thema wie Gewalt, Resilienz, Stolz und insbesondere die Suche nach Identität.

Es war Taigué entsprechend wichtig, dass die Musik auf keinen Fall zu deskriptiv und anschmiegsam sein darf, aber zugleich in Momenten sehr konkret werden muss.

Kompositorisch ist hier der Kern ein Dreieck aus Windgeräuschen: Natürlicher Wind, Atem und Ventilatoren. An sich wäre auch Stille ein sehr wichtiges Thema der Arbeit, leider lief während der Generalprobe die wir im Tanzhaus NRW filmten parallel ein gut hörbarer Salsa-Abend. Dennoch ist es glaube ich sinnvoll, hier durch diese Arbeit ein wenig durchzuklicken, um einen Eindruck von der Struktur zu bekommen. Der Start des Videos bis ca. Minute 4:50 ist der Einlass. Hier wird schon das Material Atem-Wind-Ventilatoren etabliert und in verschiedene Richtungen Auswüchse angedeutet: Die in der Kultur der Kabalei z.B. sehr wichtigen rhythmischen Flöten (gegen Minute 10 auch pur) tauchen ebenso auf, wie Anleihen an Afrobeat-Strukturen und Naturaufnahmen aller Art. Besonders aber der musikalische Begleiter des ganzen Abends: die Melodie des Lieds („Sentiment de bailer“), das zum Ende des Stücks all die Klänge von Band in einem zwiespätigen Finale ablösen wird.

Ein paar Momente für das durchskippen:

Mit der Eröffnung ab ca. 6:00 beginnt das ständige Umdeuten, wie sich (die für eine Tanzarbeit dieser Art leise) Musik und Tanz zueinander verhalten.

Das Solo von Dakanga Hervé (18:00), in dem sich aus dem Geräusch der Lüftungsanlage eine Basis für seine Pop&Lock-Arbeit wird.

Ab Minute 30 beginnt das Solo von Djedonang Aimé in der Stille und wird erst im Laufe der Zeit von der Musik eingholt. Der Auftrag war hier das Gegenteil zum Coupé Décalé zu produzieren, in dem Aimé sich tänzerisch bewegt, dabei aber alle Bewegungen direkt zu stützen.

Passwort: waignedeh


Je sors de nulle part mais d’un trou obscur

Dieses Solo von Taigué Ahmed funktionierte sehr anders als Waignedeh. Zunächst einmal spielte ich hier alles live.

Instrumentiert war es mit einer Sansula (6:00) einem Tonbandgerät (46:00) und blanken Klinkenstecker, mit dem ich Signale durch den elektrischen Widerstand meines Körpers modulierte (11:15). Darüber hinaus war die Bühne mit Kontaktmikrophonen bestückt, die seine Bewegungen teils subtil teils deutlich (z.B. 14:03) verstärkten und ich nahm viele seiner Bewegungen auch körperlich ab, um über Gestensteuerung Effekte zu modulieren. Zusammengeführt wurde alles in diesem „Musikinstrument“:

Das ist im Mitschnitt nicht zu sehen. Es ging darum, eine Taigué nicht nur als Choregraph und Tänzer sondern auch als Dirigent zu setzen. Volle Konzentration auf ihn und seine Auseinandersetzung mit seiner Rolle als afrikanischer Choreograph und Mensch in Deutschland. Ab 48:10 beginnt das vorwiegend geloopte Finale, dass zeigt, was das Nupsophon als semi-funktionales Instrument so kann.

Passwort: jesors


Hard Drive

Für die theatrale Installation Hard Drive von O-Team entwickelte ich eine Oberfläche, die dem Publikum auf vielen verschiedenen Wegen erlaubte, die Installation zu beeinflussen:

Hard Drive

Das Publikum von bis zu vier Personen saß in einem Unfallauto. Erzählt wurde eine interaktive Geschichte in der es um Verantwortung, Katastrophensehnsucht und selbstfahrende Autos ging. In einer Art Choose-Your-Own-Adventure konnte das Publikum über den Fortgang der Handlung entscheiden. Dazu war die einladend blinkende Konsole in der Mitte des Autos gedacht. Aber darum herum waren noch viele zusätzliche Sensoren verbaut (z.B. im Gaspedal, dem Schalthebel, den Türgriffen usw.), die den Klang und das Licht (und Nebel) live veränderten. Also liefen parallel lineare, generative und zyklische Stränge, die das Publikum in der Hand hatte.

Die verbaute Elektronik musste stör- und wetterfest sein und mit allen Überraschungen zurecht kommen, die eine Live-Show zu bieten hat.

Technisch führte ich die Sensoren in einem Axoloti DSP Chip zusammen und ließ diesen mit einem recht komplizierten Ableton Projekt kommunizieren. Vom Dixi-Klohäuschen aus (siehe Bild) konnte man im Notfall eingreifen, wenn etwas unvorhergesehenes passieren sollte. Den Axoloti Patch habe ich auch zum Download auf dieser Website angeboten.

Über die eigentliche Musik könnte ich jetzt natürlich auch nochmal so viel schreiben. Aber das würde ohne die Möglichkeit, die verschiedenen Ebenen übereinander zu legen, nicht verständlich darstellbar sein.


Kopfkino – Stadtspaziergänge

Das war eine Serie von literarischen Hörspielen von denen wir teilweise auch live-Versionen produzierten. Jede Folge wurde von einer oder mehreren Münchner Autor*innen geschrieben und wir – Henriette Schmidt und ich – übernahmen die Produktion eines Hörspiels auf der Basis ihres Textes. Jede Folge hat einen dezidiert eigenen Klang während wir über ein paar Eckpfosten im Sounddesign versuchen, die Kohärenz herzustellen. Da die Themen und Inhalte aber so extrem unterschiedlich sind, reichen die notwendigen musikalischen Stile von Ragtime, Psytrance, Spätromantik zu Breakcore… und natürlich Foley, Foley, Foley. Hier alle Folgen zum durchklicken.

Interessant zum Ansehen ist vielleicht aber auch dieser Mitschnitt. Hier sieht man mich mit der Musikmaschine, die ich gebaut habe, die Show begleiten. Schön ist hier für mich das Spiel mit den Geräuschen der Stadt, dem Spaghetti-Western-Ambiente, das der erste Text einführt und abstrakteren Formen. Auf jeden Fall bliebt aber immer der Text und die Stimme von Henriette Schmidt im Vordergrund.

Hier ein paar Momente, um die Bandbreite des Projekts abzustecken:

17:00, 30:00, 38:00, 46:00

Anmerkung: Auch wenn sich Martin Kießling bei dem Mitschnitt sehr geschickt mehrere Vorstellungen unsichbar zusammengeführt hat, gibt es doch leider manchmal eine Ton/Bildschere, weil zum gezeigten Augenblick die Tonspur der anderen Vorstellung läuft. Das ist beim Loopen teilweise etwas irritierend.


Wolpertinger in Progress

Zu Guter letzt noch zwei Chansons.

„Lonesome George“

„Für die Hummer auf der Titanic war der Eisberg das größte aller Wunder.“